"Seit Sina tot ist, ist bei uns nichts mehr so wie früher"
Die dreijährige Tochter der Familie Höfner starb am 24. Oktober letzten Jahres nach einer
Zahnbehandlung in einer Bad Mergentheimer Praxis
Von unserem
Redaktionsmitglied Bettina Semrau
Bad Mergentheim/Igersheim. Warum musste unsere Sina sterben? Um diese Frage kreisen seit dem 24.
Oktober 2002 die Gedanken ihrer Eltern, Claudia und Alexander Höfner, die Gedanken ihrer Großeltern, ihrer Geschwister, ihrer Verwandten, ihrer Freunde.
Warum ist die dreijährige Sina-Mareen Höfner nur zwölf Stunden nach einer Zahnbehandlung unter
Vollnarkose in einer Bad Mergentheimer Zahnarztpraxis gestorben? Mit dieser Frage beschäftigen sich Kriminalpolizei, Staatsanwaltschaft, das Fernsehen, überregionale und lokale Zeitungen und
Zeitschriften.
Die Frage, wer oder was den Tod des Mädchens verursacht hat, wird wohl letztlich erst eine
Gerichtsverhandlung klären. Bislang steht aber eines fest: Das Narkosemittel, das Sina von einem Narkosearzt gespritzt wurde, war verseucht. Das hat ein rechtsmedizinisches Gutachten ergeben. Danach
starb Sina an den Folgen eines Schocks, der durch "eine pflichtwidrige wiederholte Verwendung des mit Bakterien... kontaminierten Narkosemittels Propofol ausgelöst wurde".
Anklage ist noch nicht erhoben, die Ermittlungen wegen Verdachts auf fahrlässige Tötung laufen
noch. Geklärt werden muss, was am 23. Oktober 2002, dem Tag vor Sinas Tod, geschehen ist.
Wir sitzen am Esstisch der Familie Höfner. Mein Kollege und ich und Claudia Höfner, die Mutter
von Sina, 30 Jahre alt, eine zierliche, dunkelhaarige Frau. Um uns herum geordnetes Chaos, Umzugschaos. Die Höfners ziehen aus ihrer Doppelhaushälfte im Igersheimer Neubaugebiet aus. "Alles hier
erinnert an Sina", sagt Claudia Höfner erklärend, fast entschuldigend. Es war die Idee ihres Mannes, in einen anderen Ort zu ziehen. Sie wollte erst nicht. "Ich hatte das Gefühl, ich lasse
Sina hier zurück", sagt sie. Ein komisches Gefühl, ihr Zimmer auszuräumen, unter dem Bett, dem Schrank, verirrtes Spielzeug zu finden, bunte Haarspängchen. "Sehen Sie", sagt Claudia
Höfner und betrachtet zärtlich ein rosa Haargummi in ihrer Hand, "die liegen hier überall herum".
"Sina war unser Wirbelwind"
Aber wohin mit Sinas Sachen? Nachdem das mit ihrer Tochter passiert war, hatten die Höfners ihr
Zimmer so gelassen, wie es war. Ihre Lieblingssachen auf dem Bett verteilt. Zuerst war sie befremdet, als ihr Mann Alex sie in ihr neues Schlafzimmer in dem neuen Haus schaffte. Als er sagte, er
wolle hier auch Sinas Bett aufbauen. "Muss das sein?", habe sie ihn gefragt. Doch dann empfand auch sie Trost bei dem Gedanken, mehr von Sina mitzunehmen als die Erinnerung. "Ich habe
gedacht, wenn wir das nicht machen, dann ist ja nichts mehr von ihr da."
Die Mutter wirkt gefasst, während sie spricht. Konzentriert und um Sachlichkeit bemüht. Wie sehr
sie ihr Kind vermisst, kann man erst erspüren, wenn man den kleinen "Altar" auf einem steinernen halbhohen Absatz zwischen Ess- und Wohnzimmer betrachtet: Da brennen bunte Kerzen, da liegen
Spielzeug und Haarbänder, da stehen Bilder. Sina mit Hut, Sina am weißen Gartenzaun, Sina lachend: Ein bildhübsches kleines Mädchen mit großen braunen Augen und braunem Haar.
Der Vater kommt und setzt sich zu uns an den Tisch, hört zu und fügt lächelnd an: "Sina war
unser Wirbelwind". Voll Temperament, voll Lebensfreude. Die Höfners haben noch vier weitere Kinder. Mario ist 13, Sebastian 7, Niklas 2 und Sophia 1. Sina war das Dritte von fünf und konnte mehr
Krach machen, als all die anderen zusammen. Ein weiteres Kind wird bald folgen, denn Claudia Höfner ist wieder schwanger. "Das neue Kind kann kein Ersatz für Sina-Mareen sein, aber es bringt uns
wieder Zuversicht", sagt sie und ihr Mann nickt zustimmend.
Eine Puppe für die Schwester
"Das mit Sina", sagt Claudia Höfner so, als wolle sie sich selbst Mut machen, "hat
unser Familienleben nicht zerstört. Aber so, wie es früher war, gibt es das nicht mehr". Und nach einer kurzen Weile fügt sie hinzu: "Nichts ist mehr wie früher". Weihnachten zum
Beispiel, "Weihnachten war eine Katastrophe", sagt Claudia Höfner. Mario, der Älteste, hatte für Sina ein Weihnachtsgeschenk gekauft. An Heiligabend wollte er es ihr ans Grab bringen.
"Ich wollte zuerst nicht", sagt Claudia Höfner, "aber Alex hat gesagt, ‘wir gehen heute’". Also stand die Familie an Heiligabend am Grab auf dem Igersheimer Friedhof.
Mario hatte eine Puppe für seine Schwester, Sebastian ein Pferd mit Reiter und Alex hatte ein Haarspängchen. "Wir haben es aufs Grab gelegt", sagt die Mutter.
Sophia, die Kleine, sieht ihrer Schwester sehr ähnlich. Die gleichen dunklen Haare, die großen
braunen Augen. "Sie schläft nicht mehr durch", sagt ihre Mutter, "seit das mit Sina passiert ist". Sie schaut sich gerne das Fotoalbum von ihrer Schwester an. Claudia Höfner zeigt
mir die Bilder von ihrem Kind. "Fotos kann ich mir anschauen", sagt sie, "aber die Videoaufnahmen nicht. Da lacht und tanzt sie und sagt: ‘Mama’".
Wut, Verzweiflung, Hass? Welche Gefühle bewegen eine Mutter, die ihr eigentlich gesundes Kind auf
so eine Weise verliert? "Im Moment existiert man nur, man lebt ja nicht", sagt Claudia Höfner. Und: "Ein Hassgefühl habe ich nie gehabt. Aber ich habe gedacht, ‘das kann’s
net sein’. Wenn man als Arzt daneben sticht, dann ist das nicht beabsichtigt. Versagen kann jeder, aber das?"
"Das" geschah am 23. Oktober 2002 in einer Bad Mergentheimer Zahnarztpraxis. Die
Schneidezähne der dreijährigen Sina-Mareen Höfner waren kaputt. Karies. "Sina war anfällig für Karies", sagt Claudia Höfner, "auch unsere größeren Kinder hatten relativ schlechte
Milchzähne". Weil Sina Schmerzen beim Essen hatte, schlug die Zahnärztin vor, die beiden Zähne unter Vollnarkose zu retten, das Karies abzutragen. Sollten die Schäden aber schon den Nerv
erreicht haben, müssten die Zähne gezogen und eine Brücke eingesetzt werden.
An jenem Mittwoch im Oktober, dem Tag vor ihrem Tod, hat Sina überhaupt keine Angst. Im
Gegenteil. Sie freut sich richtig, endlich zwei gute, oder wie sie es sagte, "zwei tute" Zähne zu bekommen. Um 14.30 Uhr streckt Sina dem Arzt ihren Arm entgegen, der Anästhesist spritzt
ihr das Narkosemittel. Das Mädchen sitzt auf dem Schoß ihrer Mutter. Das Mittel wirkt sofort, das Kind verliert das Bewusstsein.
"Sie atmet ganz ruhig"
Nach anderthalb Stunden darf Claudia Höfner wieder zu ihrer Tochter. Was die Mutter zu diesem
Zeitpunkt nicht weiß: Wahrscheinlich war das Schicksal ihrer Tochter zu diesem Zeitpunkt schon besiegelt. Das jedenfalls wird später ein Arzt zu Sinas Vater sagen.
Das Fenster des Zimmers steht offen, im Raum ist es kalt, erinnert sich die Mutter. Sina trägt
nur ein dünnes Hemd, zittert am ganzen Körper. Die Mutter fragt nach einer Decke. Sina ist noch bewusstlos und wird auch nicht wach, als ihre Mutter mit ihr spricht, sie berührt. Claudia Höfner ist
besorgt. Der Narkosearzt beruhigt sie. "Sehen Sie", sagt er und legt die Hand auf Sinas Brustkorb, "sie atmet ganz ruhig".
Doch auch als der Arzt schon beginnt, seine Sachen aus der Praxis ins Auto zu tragen, gibt das
Kind keinen Laut von sich, ist völlig weggetreten. Das Kind sei wach, sagt der Arzt auf Nachfragen von Sinas Mutter, trägt sie, mit nach unten hängendem Kopf, die Treppen hinunter und setzt sie in
das Auto der Mutter. In jeder Kurve muss die Mutter ihre kleine Tochter festhalten, weil sich das Kind nicht alleine halten kann.
Zuhause legt Claudia Höfner ihr immer noch betäubtes Kind auf die Couch im Wohnzimmer. Innerhalb
von Minuten bekommt Sina plötzlich Fieber, über 40 Grad. Die Höfners rufen um 18.30 Uhr den Notarzt, der 15 Minuten später kommt. Er vermutet einen Infekt, weil Kariesbakterien in die Wunde gekommen
sein könnten, verschreibt Antibiotika. Sina ist zu diesem Zeitpunkt wach, aber nur mit Mühe ansprechbar. Wenn es nicht besser würde, müsse Sina ins Krankenhaus, sagt er.
Das Mittel wirkt sofort
Das Mittel wirkt. Sinas Temperatur sinkt auf 38 Grad, das Mädchen spricht von dem blauen Kleid,
das ihre Mutter ihr versprochen hat, wenn sie beim Zahnarzt brav war. Beruhigt gehen die Höfners gegen halb elf ins Bett. "Wir haben sie zwischen uns gelegt", sagt die Mutter. Plötzlich,
mitten in der Nacht, habe Sina dann um sich geschlagen. "Ich will die Tiere nicht", ruft das Mädchen. "Ihre Arme und Beine waren eiskalt", berichtet die Mutter, "sie war ganz
weiß im Gesicht und ihr Nacken glühte". Sofort fahren die Eltern mit ihrem Kind ins Caritas-Krankenhaus, wo sie um 1.26 Uhr eintreffen. Dort kommt sie auf die Intensivstation. Die Ärzte kämpfen
um Sinas Leben. "Irgendwann kam Alex zu mir und sagte, dass Sina reanimiert wird", erinnert sich die Mutter. Um halb vier kommt der Oberarzt aus dem Behandlungszimmer. "Er hat nichts
gesagt. Nur auf den Boden geguckt und mit dem Kopf geschüttelt". Sina ist tot.
In den zurückliegenden Monaten mussten sich die Höfners manche Kritik anhören. Sie würden mit
ihrer Trauer zu sehr an die Öffentlichkeit gehen, hieß es, weil sie Fernsehen und Zeitungen ihre Geschichte erzählten und für Sina eine eigene Homepage einrichteten. Das können die Höfners nicht
verstehen. "Wieso sollen wir unseren Mund halten?", fragt Claudia Höfner. "Die Öffentlichkeit soll erfahren, wie verantwortungslos ein Arzt handeln kann".
"Wissentlich" gehandelt
Was die Höfners wollen, ist Gerechtigkeit. Denn der Verdacht der Staatsanwaltschaft ist, dass der
Anästhesist eine Flasche des Narkosemittels bei mehreren - mindestens aber bei zwei - Patienten benutzt haben soll. Und das, obwohl auf Beipackzettel und Etikett deutliche Warnhinweise stehen, dass
das Mittel nur einmalig bei einem Patienten gebraucht werden darf. Ist das Mittel länger als zwölf Stunden geöffnet, entwickeln sich Bakterien, die zu einer Blutvergiftung führen. Sinas Todesursache.
Wie ein weiteres Gutachten feststellt, habe der Narkosearzt von der Gefährlichkeit des Mittels bei unsachgemäßem Gebrauch gewusst. Dennoch, so heißt es weiter, habe er es "wissentlich und ohne
Schuldbewusstsein" angewendet. Da dies eine "gröbste Missachtung der Regeln ärztlichen Standards" sei und "wissentlich" geschah, "liegt keine bloße Fahrlässigkeit
vor".
Auch der Patient, der einige Stunden vor Sina mit dem Mittel betäubt worden war, hatte diese
Bakterien im Blut - er überlebte aber. Auch er habe die für eine Blutvergiftung typischen Symptome gehabt, auch sein Zustand war laut obigem Gutachten "potentiell lebensbedrohlich". Der
Mann hat inzwischen Anzeige wegen fahrlässiger Körperverletzung gegen den Narkosearzt erstattet, der immer noch praktiziert (siehe nebenstehenden Bericht).
Noch ist keine Anklage erhoben. Weitere Ermittlungen sind nötig und weitere Gutachten. Doch wenn
es zum Prozess kommt, werden Claudia und Alexander Höfner als Nebenkläger im Gerichtssaal sitzen.
© Fränkische Nachrichten – 28.06.2003
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